100 Jahre als Brennpunkt der Weltgeschichte
Vor
zehn Jahren ging das 20. Jahrhun- dert zu Ende. Sieben Gründe,
warum
dieses Zeitalter zur bedeutendsten Epoche der Weltgeschichte
erklärt werden
sollte.
Von
Dr. Stefan Högl
Als
das Jahr 2000
näher rückte, konnte man es regelrecht spüren.
Jahrhundertwende, Millenniumsfieber.
Schon Jahrzehnte zuvor hatte dieses Datum etwas Magisches an sich, es
war wie
ein fernes Ziel, auf das man unweigerlich zusteuerte.
Sonderveröffentlichungen
blieben nicht aus, die Rückblicke häuften sich. Doch die
Jahrtausendwende ist
seither vergessen, die Welt längst von anderen Problemen
heimgesucht. Ein
trauriges Schicksal für das 20. Jahrhundert, ein Zeitalter, an das
sich offenbar
niemand mehr erinnern will. Seine Ereignisse und Entwicklungen zeigen
aber: Es
waren die bedeutendsten einhundert Jahre der Menschheitsgeschichte.
1. Die
Entdeckung der Welt
Die Welt
in ihren
Ausmaßen zu kennen und zu begreifen - diesen Traum hat der Mensch
im 20.
Jahrhundert endlich erreicht. Zum ersten Mal war es möglich, die
Weiten des
Weltraums bis an ihr Ende zu erfassen und die Materie bis in ungeahnte
Tiefen
zu durchdringen. Noch zu Beginn des Jahrhunderts befanden sich
weiße Flecken
auf den Landkarten: Wüsten, Berge und polare Regionen, die noch
auf Erkundung
harrten. Mit den ersten Flugzeugen konnte diese Lücke bald
geschlossen werden.
Expeditionen haben jedoch an den irdischen Grenzen nicht haltgemacht.
Bald
kamen die Nachbarplaneten unseres Sonnensystems ins Visier. Pluto wurde
1930,
dessen Mond Charon erst 1978 entdeckt. Am Ende des Jahrhunderts hat mit
Pioneer
10 die erste Sonde die Heimat des Sonnensystems verlassen. -
Mittlerweile
hat das Universum seine größten Geheimnisse preisgegeben.
Teleskope haben es
durchleuchtet, sein Alter bestimmt, seinen Werdegang ermittelt. Mit
gleichem
Nachdruck haben Forscher ins Innere der Materie geblickt - auf die
Ebene der
Atome und Quarks. Hier scheint sich die Physik schon an den Grenzen des
Erforschbaren
zu bewegen, wenngleich sich immer neue Fragen auftun.
Das spektakulärste
Ereignis war zweifellos die Landung des ersten Menschen auf dem Mond.
Kaum ein
anderes Ereignis hat eine Symbolkraft erreicht, die für ein ganzes
Jahrhundert
steht: Das Jahrhundert der Weltentdeckung.
2. Der
Durchbruch der Wissenschaft
Der
wissenschaftliche
Fortschritt war keineswegs auf die moderne Physik beschränkt. Auch
die
benachbarten Disziplinen profitierten von den wachsenden technischen
Möglichkeiten.
Mit ihnen konnten der blaue Planet und das Leben auf ihm erfasst und
bislang
geheimnisvolle Prozesse erklärt werden. So gelang es den Biologen,
den Bauplan
der Gene zu entschlüsseln und die Entwicklung des Lebens ein
großes Stück weit
zu beschreiben. In der Medizin hatten die Entdeckungen zu bislang
ungeahnten
Möglichkeiten geführt, von der Entdeckung der
Röntgenstrahlen über das Penicillin
bis hin zur modernen Intensivmedizin. Die meisten Krankheiten
können
mittlerweile geheilt oder wenigstens gelindert werden – auch im
seelischen
Bereich: Das vergangene Jahrhundert erlebte die Geburt der Psychologie
als
Wissenschaft.
Mit den Erfolgen in
den verschiedenen Bereichen des Lebens haben die Natur- und Sozialwis-
senschaften
ihren Siegeszug angetreten. Bis heute steht ihr Anspruch, die
Erscheinungen
unserer Welt erforschen und erklären zu wollen. Mit Ausnahme der
verbliebenen
philosophischen und theologischen Fragen ist dies auch gelungen: Im 20.
Jahrhundert ist die Welt endlich erklärbar und berechenbar
geworden.
3. Der
Siegeszug des Individuums
Ein
Gedanke, der seit
Menschengedenken religiöse und politische Ideen durchzogen hatte,
ist endlich
Wirklichkeit geworden: Die Anerkennung des Menschen als Individuum mit
unverletzlicher
Würde und unveräußerlichen Rechten. Zwar hat das 20.
Jahrhundert lange warten
müssen, bis diese Idee sich durchsetzen konnte, doch zeigt die
politische
Entwicklung eines deutlich: Fundamentale Menschenrechte werden
mittlerweile
weltweit eingefordert und zunehmend auch anerkannt. Ihr Vormarsch ist
nicht
mehr aufzuhalten. Zwar mag noch Uneinigkeit bestehen, wie diese Rechte
im
einzelnen formuliert werden, doch eines
hat das 20. Jahrhundert gezeigt: Der Mensch betrachtet sich selbst als
Individuum, das seine Entscheidungen souverän verantwortet. Er hat
sein
Selbstbewusstsein gefunden.
4. Der
Sieg des demokratischen Staats
Die
Anerkennung der
Menschenrechte auf Seiten des Individuums muss in der politischen
Dimension
langfristig zum freiheitlich-demokratischen Staatswesen führen.
Ein
souveräner Mensch muss wenigstens ein Mitspracherecht in
gesellschaftlichen
Fragen haben, muss sich äußern, versammeln und frei bewegen
dürfen.
Dass sich aus dem
Anspruch auf Menschenrechte sogleich die Forderung nach freien Wahlen
ableiten
lässt, hat der Zusammenbruch der kommunistischen Staaten in
Osteuropa
eindrucksvoll gezeigt. Jede Diktatur beruht auf der Verweigerung von
individuellen Rechten – hat das Bewusstsein von diesen die Menschen
erst einmal
erreicht, so ist der Grundstein einer demokratischen Ordnung schon
gelegt. Erst
im 20. Jahrhundert hat sich in der Praxis gezeigt, was zuvor nur in
akademischen Runden erörtert werden konnte: Der demokratische
Staat wird sich
am Ende durchsetzen, weil er der Natur und der Würde des Menschen
am meisten entspricht.
5. Die
Entscheidung der Wirtschaftsweise
Mit dem
Ende des
Ost-West-Konflikts hat sich nicht allein die Frage des politischen
Systems
entschieden. Auch die Suche nach einer zukunftsfähigen
Wirtschaftsordnung ist
an ihr Ende gelangt. Weil sich auf Dauer nur durchsetzen kann, was der
Natur
des Menschen entspricht, müssen politische und ökonomische
Grundentscheidungen
auf einem tragfähigen Fundament aufbauen: auf grundlegenden
Menschenrechten.
Neben politischer und gesellschaftlicher Mitbestimmung muss der
einzelne
demnach in der Lage sein, die Früchte seiner Arbeit zu
genießen und Verträge
mit anderen zu schließen. Einschränkungen, wie sie in einer
Planwirtschaft zu
finden sind, lassen sich mit diesem Anspruch schlecht verbinden. Nicht
allein
aus ökonomischen Gründen, auch wegen der Missachtung des
Individuums sind die
kommunistischen Staaten am Ende gescheitert.
Es war das 20.
Jahrhundert, das die Bühne für den historischen Kampf um die
menschengerechte
Gesellschaftsordnung bereitstellen musste.
6. Der
Anbruch einer Zukunftsvision
Die
menschliche
Geschichte ist erfüllt mit politischen und gesellschaftlichen
Forderungen,
mit ideologischen und religiösen Zielen, nach denen möglichst
die gesamte Welt
umgestaltet werden muss. Zahllose Kriege sind um Macht und Einfluss, um
Bodenschätze und Territorialansprüche, um Gott und Ehre
geführt worden. Das
20. Jahrhundert hat hierbei die ersten Weltkriege, die meisten Toten
und die
schrecklichsten Waffen zu vermelden.
Doch enthält gerade
diese Epoche eine Zäsur: Die Vision einer friedlichen Welt, die –
erstmals seit
Menschengedenken – den Krieg aus ihren Arsenalen streicht. Eine
Weltordnung
soll entstehen, die auf der Anerkennung universaler Menschenrechte und
gegenseitiger nationaler und religiöser Achtung beruht. Diese
Entwicklung
bedeutet ein Novum in der Weltgeschichte. Mag ihre Umsetzung auch einen
langen
Weg erfordern, der erste Schritt wurde im vergangenen Jahrhundert
bereits
getan.
7. Das
Ende der Geschichte
Am Ende
des 20.
Jahrhunderts findet eine historische Epoche ihren Abschluss. Ein
Zeitraum, in
dem der Mensch eine Antwort auf grundlegende Fragen gefunden hat. Die
Welt und
ihre Abläufe sind – soweit möglich – enträtselt, der
Mensch hat seine
Individualität gefunden und damit die soziale Ordnung, in der er
sie
verwirklichen kann. In diesem Bewusstsein erst konnte die Vision einer
Welt
heranreifen, die der Natur des Menschen entspricht und seiner
Würde
verpflichtet ist.
Die Geschichte ist an
einem Ende angekommen, was die großen wissenschaftlichen und
gesellschaftlichen
Fragen angeht. In diese Richtung hat Francis Fukuyama schon kurz nach
dem Fall
des Kommunismus argumentiert. Gewiss wird es weiterhin bedeutende
Entdeckungen
geben, werden auch in Zukunft wichtige politische Maßnahmen
getroffen werden.
Allein die großen Fragen und Konflikte sind entschieden. Die
meisten Menschen
haben diese Entwicklung ganz selbstverständlich zur Kenntnis
genommen, ohne
große Gedanken darüber zu verlieren. Irgendwann war das Ende
großer geschichtlicher
Umbrüche ohnehin zu erwarten – so wie der Fall der Berliner Mauer
eines Tages
eben kommen musste.
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Ein
Jahrzehnt später
erfüllt eine Mischung aus Melancholie und bitterer Erinnerung die
Luft. Ein
Jahrhundert wie dieses wird es nicht mehr geben.
Zugleich kann man mit
Erleichterung auf die vergangenen Jahrzehnte zurückblicken. Mit
dem Ende der
großen Konflikte kann sich der Mensch nun der ganz
persönlichen Geschichte
zuwenden und sich den Fragen stellen, die das Leben offen gelassen hat.
Für
die Zeitzeugen des
20. Jahrhunderts muss die historische Epoche Verpflichtung sein, die
Erinnerungen daran zu bewahren und weiterzugeben. Je weiter sie
zurückreichen, umso wertvoller werden sie künftigen
Generationen sein.