"Dieses Kapitel schreibe ich im Sommer des Jahres 1999. Vor wenigen Monaten feierten wir den 50. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. In wenigen Monaten nehmen wir Abschied vom zweiten Jahrtausend nach Christi Geburt.
Ich vermag dem 20. Jahrhundert nicht nachzutrauern. Nie zuvor sind so viele Menschen durch Kriegshandlungen ums Leben gekommen — und zwar mehr Zivilisten als Soldaten — wie im 20. Jahrhundert. Nie zuvor haben totalitäre Regime über 100 Millionen Menschen einfach ermordet, weil sie der falschen Klasse oder der falschen Rasse angehörten, weil sie die falsche Nationalität oder die falsche Religion hatten.
Wahr ist aber auch, daß wir in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg endlich die Lehren aus unserer unseligen Geschichte gezogen und in Gestalt der EU eine europäische Friedensordnung geschaffen haben, die auf dem Fundament der freiheitlichen Demokratie, des Rechtsstaates und der Sozialen Marktwirtschaft errichtet wurde.
So war es möglich, daß wir Westdeutschen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts die wohl glücklichste Zeit unserer Geschichte erleben durften. Allerdings, aus Erfahrung können wir wissen, daß alles Irdische vergänglich ist, daß es Dauer auf Erden nicht anders als durch ständige Erneuerung geben kann. Das gilt für jede menschliche Beziehung, jede Ehe, jede Freundschaft. Es gilt aber auch für den Staat und seine Institutionen. Unsere Demokratie bleibt nur lebendig, wenn sich immer wieder Millionen Menschen bereitfinden, zumindest auch für das Gemeinwohl zu arbeiten. Europa wird nur dann der ersehnte Hort von Frieden, Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand sein, wenn wir uns aktiv für dieses Europa einsetzen und wenn wir die legitime Vertretung der kurzfristigen nationalen Interessen nicht soweit treiben, daß unser überragendes langfristiges Interesse gefährdet wird, nämlich die Schaffung einer Union, die in sich selbst eine Friedensordnung darstellt und die so handlungsfähig ist, daß sie ihrem Auftrag gerecht werden kann, zur Wahrung des Friedens und der Menschenrechte in der Welt, zur Mehrung von Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit im Inneren und zum Schutze der Umwelt wirksam beizutragen.
Aus
dem Wissen um die Vergänglichkeit alles Irdischen
müssen wir den Impuls gewinnen, weit genug in die Zukunft zu
schauen, damit
wir die Gefährdungen so rechtzeitig erkennen, daß ein
Gegensteuern noch möglich
ist."