Dr. Ernst Albrecht

Dr. Ernst Albrecht, Ministerpräsident a.D.


Ausblick


"Dieses Kapitel schreibe ich im Sommer des Jahres 1999. Vor we­nigen Monaten feierten wir den 50. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. In wenigen Monaten nehmen wir Abschied vom zweiten Jahrtausend nach Christi Geburt.

    Ich vermag dem 20. Jahrhundert nicht nachzutrauern. Nie zu­vor sind so viele Menschen durch Kriegshandlungen ums Leben gekommen — und zwar mehr Zivilisten als Soldaten — wie im 20. Jahrhundert. Nie zuvor haben totalitäre Regime über 100 Millionen Menschen einfach ermordet, weil sie der falschen Klasse oder der falschen Rasse angehörten, weil sie die falsche Nationalität oder die falsche Religion hatten.

­    Wahr ist aber auch, daß wir in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg endlich die Lehren aus unserer unseligen Geschichte gezogen und in Gestalt der EU eine europäische Friedensord­nung geschaffen haben, die auf dem Fundament der freiheit­lichen Demokratie, des Rechtsstaates und der Sozialen Markt­wirtschaft errichtet wurde.

    So war es möglich, daß wir Westdeutschen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts die wohl glücklichste Zeit unserer Geschichte erleben durften. Allerdings, aus Erfahrung können wir wissen, daß alles Irdische vergänglich ist, daß es Dauer auf Erden nicht anders als durch ständige Erneuerung geben kann. Das gilt für jede menschliche Beziehung, jede Ehe, jede Freund­schaft. Es gilt aber auch für den Staat und seine Institutionen. Unsere Demokratie bleibt nur lebendig, wenn sich immer wie­der Millionen Menschen bereitfinden, zumindest auch für das Gemeinwohl zu arbeiten. Europa wird nur dann der ersehnte Hort von Frieden, Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Wohl­stand sein, wenn wir uns aktiv für dieses Europa einsetzen und wenn wir die legitime Vertretung der kurzfristigen nationalen Interessen nicht soweit treiben, daß unser überragendes langfri­stiges Interesse gefährdet wird, nämlich die Schaffung einer Uni­on, die in sich selbst eine Friedensordnung darstellt und die so handlungsfähig ist, daß sie ihrem Auftrag gerecht werden kann, zur Wahrung des Friedens und der Menschenrechte in der Welt, zur Mehrung von Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit im In­neren und zum Schutze der Umwelt wirksam beizutragen.

Aus dem Wissen um die Vergänglichkeit alles Irdischen müs­sen wir den Impuls gewinnen, weit genug in die Zukunft zu schauen, damit wir die Gefährdungen so rechtzeitig erkennen, daß ein Gegensteuern noch möglich ist."

Signature

Dr. Ernst Albrecht hat uns dankenswerterweise seine Erinnerungen (Erinnerungen. Erkenntnisse. Entscheidungen. 1999) in Form eines Buchs überreicht. Die zitierte Passage findet sich im Kapitel "Europa".