Björn EngholmBjörn Engholm, Ministerpräsident a.D.


Plädoyer für Sinnlichkeit

Gedanken zum Ausgang des 20. Jahrhunderts


"Zufällig oder nicht: Seit Beginn der Neuzeit war jede Jahrhundertwende eine außergewöhnliche schöpferische Periode, in der – mittels menschlichen Geistes und Willens – phantasievoll neue, wegweisende Perspektiven eröffnet wurden. Robert Jungk, der verstorbene Zukunftsforscher und Publizist, hat auf diesen ebenso bemerkenswerten wie unbemerkt gebliebenen Umstand hingewiesen.

In der Tat: Ende des 15. Jh. entdeckt Kolumbus die „Neue Welt“; der erste Schritt auf dem Wege zur Globalität ist getan. Ein Jahrhundert später ebnet Galilei den Weg zu einer rationalen Sicht des Universums; Cervantes verfaßt (mit „Don Quichote“) den ersten modernen Roman, Shakespeare sein mitreißendes dramatisches Werk. Ende des 17. Jh. begründet Newton die exakten Naturwissenschaften als Basis des späteren technischen Zeitalters. 1789 beendet die Französische Revolution das Feudalzeitalter und öffnet das Tor zur Demokratie Das Ende des letzten Jahrhunderts schließlich ist geprägt von industriellen Gründern und sozialer Arbeiterbewegung; ökonomisch-technischer Fortschritt und soziale Verantwortung werden zum Grundmuster der sozialen Marktwirtschaft.

Die Folgen der Globalisierung

Kein Zweifel: solche wegweisenden Jahrhundertperspektiven, einen „Fin-de-siècle“-Effekt mit vergleichbar epochalen Schüben bräuchten wir heute nötiger denn je. Seit die uns vertraute Nachkriegsordnung Ende der 80er aus den Angeln gehoben und die Welt weitgehend grenzenlos wurde, sind an die Stelle der alten Gewißheiten und Übersichtlichkeiten neue Megatrends getreten: Globalisierung hier und parallel dazu eine zur Globalität konträr verlaufende Pluralisierung.

Ökonomische Universalität ist zur neuen Konstante – gleichsam einer fundamentalen „driving force“ – geworden: Waliser bauen Häuser in Düsseldorf; Ungarn renovieren Wiener Jugendstil; weißrussische Gastarbeiter schweißen Schiffsrümpfe in Stettin; deutsche Turbinen entstehen in der Ukraine; Münchner Textverarbeitung wird in Indien und Malaysia erledigt; ein Medizintechnik-Unternehmen kauft Rohstoff in Indonesien, fertigt vor Fidschi und vertreibt von Australien; vom Kaufpreis eines Pontiac bleiben 38% in den USA, über 60% fließen an die Zulieferer und Komponentenhersteller in alle Welt; und Tycoone wie Murdoch, Rupert, Kirch oder Berlusconi sind längst Träger universell verflochtener Medienkonzerne...

Dieser Übergang von nationalen Wirtschaften zu transnationalen Dienstleistungsgeflechten und die Abhängigkeit nationaler von internationalen Marktkonditionen mit der Folge gnadenloser Konkurrenzen ist unaufhaltsam und führt in den traditionellen europäischen Wohlstandsgesellschaften, die darauf nicht eingestellt sind, zu tiefgreifenden sozialen Verwerfungen. Daß in Europa an die 15% der Menschen ohne Arbeit sind, die deutsche Arbeitslosigkeit Weimarer Dimensionen erreicht, daß Überfluß und Mangel, Armut und Reichtum in paradoxer Nähe existieren, zeigt die Dimension der Herausforderungen an.

Zum Erfolg verdammt

In dieser Welt ebenso grenzenloser Chancen wie unbegrenzter Risiken sollen wir uns zurechtfinden, mehr noch: müssen wir erfolgreich sein, denn Nicht-Erfolg würde über kurz oder lang zum Entzug der politisch-sozialen Legitimation führen, also die Zukunft aller gefährden.

Erfolgreich sein, kurz gesagt, meint ökonomisch-technologisch zur Weltspitze gehören, also unter optimalen Rahmenkonditionen Produkte, Dienstleistungen und Problemlösungen entwickeln, die der Konkurrenz voraus sind; dabei der Ökologie zum – auch wirtschaftlich ertragreichen – Durchbruch zu verhelfen und die bedrückend ungleiche Verteilung von Lebenschancen so korrigieren, daß die Würde von Menschen nicht mehr zur konjunkturellen oder budgetären Manövriermasse werden kann.

Aber: Sind wir auf diese Aufgaben vorbereitet? Es scheint, als stünden unsere politischen und ökonomischen Wahrnehmungs- und Denkpotentiale in einem reziproken Verhältnis zur Größe der Probleme. Vor allem die „klassischen Innovationsagenturen“ scheinen in einem Zustand der „Ermattung“ zu sein (Klaus Leggewie).

Im politischen System ersetzt das Populäre das Ringen um Zustimmung für´s Notwendige, beherrscht das Symbolische das Feld, wird Tun weniger real getan als medial inszeniert. Die Bürokratien werden gezwungen, ihre Kompetenz in der Regelung abertausender Details zu verschwenden, sodaß der Staat überreguliert ist, im Detail, aber völlig untersteuert bei den wenigen Zukunftsaufgaben.  
Die Bürgerbewegungen werden zu Kindern der Zeit; sie tendieren zu Kulturpessimismus oder wandeln sich zu Parteien – mit der Folge des Schwindens ihrer innovativen Stärken.
Auch die Intellektuellen innerhalb und außerhalb der Wirtschaft üben sich in Spezialisierung, pflegen Gartensegmente, kaprizieren sich auf Abgrenzung oder tummeln sich am Markt: Orientierung und Vision sind Mangelware.
Und die Wirtschaft? Natürlich ist sie bahnbrechender Innovation fähig. Aber wer traut ihr das zu, solange das Bild durch „Lean“-Lopez, Crommes und der Deutschen Bank Western Stil und Henkels Sozial-Halalli geprägt wird?

Denken und die Sinne schärfen

Es scheint, als sei die einstmals so aufklärerische Cartesianische Logik, das „ich denke, also bin ich“ geschrumpft auf Oberflächen-Ratio: das langfristige Ziel gilt wenig, der kurzfristige Erfolg alles, das Ego ignoriert die Polis.

Hinzu kommt, daß auch die nicht-rationalen Fähigkeiten, insbesondere die ästhetischen (sinnlichen), in ihrer Bedeutung für die Entwicklung von – auch ökonomischer – Kreativität weitgehend ignoriert werden. Von der Schule bis zum Management-Training: Gefördert, gefordert und belohnt wird das Marktgängige, das kurzfristig verwertbare rationale Wissen; die schöpferischen Kapazitäten wie Neugier, Phantasie, Imagination liegen mangels Nachfrage und Belohnung eher brach.

Was tun, um schärfer, kritischer und langfristiger zu denken, was, um die sinnlichen Fähigkeiten zu vitalisieren? Wie die Neugier spitzen, den „Riecher“ für Entwicklungen verfeinern? Wie wichtiges von Unwichtigem, Authentisches von Inszeniertem unterscheiden? Vom Neuen träumen, dem Noch-nicht-Erreichten – und es erreichbar machen? Wie Lust und Mut zum Risiko entwickeln und in Innovation umsetzen?

Zunächst gilt es, komplexes Denken zu lernen und trainieren. Ein Denken, das nicht im Detail, nicht im status quo verharrt, sondern in Kenntnis des Vergangenen Gegenwart als Tor des Zukünftigen begreift und Zukunftshorizonte eröffnet; das Abschied nimmt von der Vorstellung linearer Zeitläufe (mehr, schneller, effektiver gleich glücklicher) und sich auf Unsicherheiten und zyklische Entwicklungen einstellt; das zugleich das WIE (den Weg) wieder dem WAS (dem Ziel) unterordnet.

Ein solches Denken wird nur möglich, wenn dem Logos und der Ratio zugleich Intuition und Imagination als Wurzeln  von Phantasie und Kreativität gesellt werden, wenn aus dem eindimensionalen ein „ästhetisches Denken“ (Wolfgang Welsch) wird. Ron Sommer, vormals Sony, heute Telekom und gewiß kein weltfremder Manager, in einer Denkfabrik-Tagung in Kiel: „Wie soll ich, wenn ich nicht täglich von der Zukunft träume, das künftige Mögliche ahnen und realisieren?“

Alle Erfahrung zeigt, daß orientierungsfähig sein in ungewissen Zeiten, Innovation als Herausforderung annehmen und Chancen im Risiko entdecken, leichter sein kann, wer mit jeder Sinnenfaser auf- und wahrnimmt, abtastet, durchspürt, siebt – also alle seine ästhetischen Fähigkeiten voll und bewußt nutzt.

Es ist eine Binsenweisheit. Der slow-food-Esser schmeckt mehr und differenzierter, der Musiknarr hat ein mehrfach breiteres Hör-(und Empfindungs-)spektrum als ein Clipberieselter; Erotiker ertasten ungleich mehr als Sexisten; und wer einmal in die unglaubliche Vielfalt der Bildkunst eingetaucht ist, stellt fest, wie wenig die konventionell geprägte Wahrnehmung zu sehen erlaubt hat.

Wo sonst gibt es soviel Übung in Freiheit, Vielfalt, Grenzüberschreitung und Bewegung wie im Reich der Sinne? Wo sonst gibt es so viele Wegweisungen in Sachen Phantasie, Kreativität, Empfindsamkeit und Pluralität? Und was wäre wichtiger für Selbständige, Freiberufler, Gewerkschaftsführer, Manager, Nationalökonomen (und Politiker!), als sich ästhetisch zu trainieren?

Viele bezweifeln, daß ästhetisches Denken eine conditio sine qua non für schöpferische ökonomische Qualitäten sei. Ihnen sei entgegengehalten, was die Neurowissenschaften seit langem beweisen und wofür Roger Sperry 1981 den Nobelpreis erhielt: daß die in der rechten Hirnhemisphäre beheimateten emotional-imaginativen Potentiale mangels Übung, Nachfrage und Belohnung weitgehend brachliegen – wodurch reale Innovationschancen verspielt würden. Eine Erkenntnis über die fruchtbaren Wechselbeziehungen von Logik und Phantasie, Ratio und Emotio, Konventio und Divergenz, auf die schon Sigmund Freud hinwies...

Mit dem Kopf fühlen...

Was für ein Gewinn, wieviele zusätzliche schöpferische Ideen würden erschlossen, wäre es in Schulen, Hochschulen und Wissenschaften usus, nicht nur analysieren, planen, zählen, messen, rational denken zu müssen – sondern zugleich intuitiv, imaginativ, empfindsam und träumerisch sein zu dürfen? Wieviel unkonventioneller, auch sensibler, ließen sich die komplexen Probleme der Zeit lösen, gelänge es, die rationalen mit den sinnlichen Fähigkeiten zu verbünden?

Fazit: Kunst und Kultur sind das Beet, aus dem weit mehr als nur exotische Blüten sprießen. Sie mögen in ihrem Nutzen ökonomisch nicht quantifizierbar sein; am Ende sind sie unentbehrliche Nutzenstifterinnen – auch, vielleicht gerade, für die Wirtschaft.

Insofern ist keine in Kultur und kulturelle Bildung investierte Mark aus öffentlichen Haushalten, privaten Liebhabertaschen oder von Unternehmer-Sponsoren nutzlos; umgekehrt: jede zuviel gesparte Kulturmark verkürzt den „ästhetischen Value“, der in unserer Zeit um ein mehrfaches wichtiger ist als der monetäre der „shareholders“.

Denn was ist wichtiger, um es mit Lessing zu sagen, als die Fähigkeit, mit dem Herzen zu denken und dem Kopf zu fühlen?"