Marcel Reich-Ranicki

Prof. Dr. hc. Marcel Reich-Ranicki


"Als uns am 9. Mai 1945 in Warschau die Nachricht erreichte, daß im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Streitkräfte unterzeichnet worden sei und damit der Zweite Weltkrieg beendet war, forderten uns einige fröhliche und glückliche Kollegen auf, mit ihnen in den Hof zu gehen. Es sei Zeit, sagten sie, für einen Salut gen Himmel. Wir entsicherten unsere Pistolen. Dann schossen meine aufgeräumten und übermütigen Kollegen gleichzeitig in die Luft. Einen Augenblick später richtete auch ich meine Pistole auf den blauen und sonnigen, den unbarmherzigen und grausamen Himmel, und dann drückte ich ab. Es war mein erster und letzter Schuß im Zweiten Weltkrieg, der erste und letzte in meinem Leben.
Tosia stand neben mir. Wir schauten uns schweigend an. Wir wußten genau, daß wir das gleiche empfanden: Nein, nicht Freude empfanden wir, sondern Trauer, nicht Glück, sondern Wut und Zorn. Ich blickte noch einmal nach oben und sah, daß eine Wolke aufgezogen war, dunkel und schwer. Ich spürte: Diese Wolke über uns, sie würde sich nie verziehen, sie würde bleiben, unser Leben lang."

(Auszug aus dem Buch "Mein Leben")

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