Dr. Klaus von Dohnanyi
Bürgermeister von Hamburg a.D.
An meine Kinder - zum Jahrtausendwechsel
"Wir, die wir große Teile des zuende
gehenden Jahrhunderts
durchlebt, gelegentlich auch durchlitten haben, stehen noch immer im
Bann
seiner Irrtümer und verbrecherischen Arroganz, seiner
Enttäuschungen
und Schrecken. Und so neigen wir dazu anzunehmen, unsere Erinnerung
werde
auch die zukünftiger Generationen sein.
Doch wir selbst erinnern aus dem 19. Jahrhundert kaum Hungersnöte
der frühen Industrialisierung, die blutigen Kriege und
Bürgerkriege. Vielmehr kennzeichnet das 19. Jahrhundert für
uns jener grandiose Aufbruch der Moderne in der Musik, der Malerei, der
Literatur; die umwälzende Entwicklung von Naturwissenschaft und
Technik; und schließlich der Fortschritt
einer sozialen Demokratie. Die mörderische Schlacht von Gettysburg
ist
so zu einer großen Rede Lincolns geworden; Napoleon liegt verehrt
im
Invalide. Das 19. Jahrhundert sieht also heute für uns sicher ganz
anders
aus als damals für die meisten Zeitgenossen.
Wie wird es dem 20. Jahrhundert gehen? Zwei Weltkriege, Millionen von
Toten und der Holocaust werden gewiß lange erinnert. Aber das
Bild des 20. Jahrhunderts werden auch diese Ereignisse schon bald nicht
mehr prägen. Wir sollten nicht vergessen: als emotionale
Erinnerung blieb nicht die Inquisition, sondern Galileis „Und sie
bewegt sich doch“
Auch das 20. Jahrhundert war voller solcher Tapferkeit gegen
totalitäre Unterdrückung. Ihr Gedächtnis wird nicht
verwehen. Am wichtigsten wird wohl sein, daß das 20. Jahrhundert
aus Ahnungen der Menschheit verwirrende Gewißheiten gemacht hat:
Unsere wissenschaftlich-technische Macht erwies sich als nahezu
unbegrenzt, aber je tiefer wir in die Natur eingedrungen
sind, desto unwiderlegbarer haben wir auch erfahren, daß wir kein
Geschöpf
einer gütigen Hand, sondern eher ein glücklich entsprungener
Bruder
des Schimpansen sind. Und, daß wir unsere Welt zwar erleuchten
können,
als hätten wir die Sterne vom Himmel geholt, aber immer auch
zugleich
erfahren, wie klein wir im Großen bleiben: Die Erde ein Gestirn,
für
andere Gestirne nicht anders anzusehen, als wir diese erblicken.
Was lehrt uns das für das 21. Jahrhundert? Eines ist gewiß:
Wir wissen nichts über die Zukunft. Doch vielleicht dies: Der
einzelne Mensch lernt in seinem Leben, die Menschheit aber hat sich
bisher nur sehr zögernd als lernfähig erwiesen. Deswegen ist
noch immer die Hoffnung unser sicherster Grund. Unsere Arbeit allein
kann sie festigen."