Erfahrungen von Transzendenz in den Religionen
 

Belege aus alten Quellen

Bei Nah-Todeserfahrungen handelt es sich um Erscheinungen, auf die erst die moderne Notfallmedizin aufmerksam gemacht hat. Ihr Auftreten wird in allen Kulturkreisen erwähnt, so daß es sich bei ihnen um ein allgemein-menschliches Phänomen handelt. Wenn dem so ist, dann müßte man erwarten können, daß es solche Erlebnisse auch in früherer Zeit gegeben hat. Ein Blick auf in alte Überlieferungen und Quellen bestätigt diese Vermutung.
Weil sich die besagten Erfahrungen früher nur selten tatsächlich an der Schwelle zum Tod ereignet haben dürften, sollte besser von Jenseits- oder Transzendenz-Erlebnissen gesprochen werden. Deren deutlichste Spur findet sich in religiösen Quellen, die gleichzeitig die ältesten schriftlichen Überlieferungen darstellen. Beim Einfluß der Erfahrungen auf die religiösen Vorstellungen kann man zwischen naturverbundenen, mythischen und monotheistischen Glaubenssystemen unterscheiden.

1. Naturverbundene Religionen: Archäologische Fundstücke legen bereits nahe, daß die Vorstellung von einer immateriellen, vom Körper loslösbaren Seele weit zurückreicht. Beim Pekingmenschen wurde den Toten der Schädel abgetrennt, ohne daß man einen Grund hierfür ausgemacht hätte. In der Altsteinzeit wurden separierte Schädel und Unterkiefer zum Teil sogar bestatten, ein Verhalten, das sich auch bei manchen Naturvölkern wiederfindet. Einen noch deutlicheren Beleg für die vorgeschichtliche Annahme einer Seele stellen die sogenannten Schädelrepanationen dar: Hierbei handelt es sich um Öffnungen des menschlichen Schädelknochens, die schon zu Lebzeiten erfolgt sind und die nicht etwa einer medizinischen Behandlung gedient haben. Die künstliche Öffnung sollte vielmehr ein Durchgang für die vermutete Seele sein, deren Sitz man ganz offensichtlich mit dem Kopf in Verbindung gebracht hat. Die religiöse Form des frühen Menschen war der Schmanismus, den man noch bis ins 20. Jahrhundert beobachten konnte. Jakob Ozols, Professor für Vor- und Frühgeschichte, faßt diese Sichtweise zusammen:

"Nach dem Tode trennt sich die Seelengestalt von dem Körper und führt ihr eigenes, weitgehend vom Körper gesondertes Leben weiter. Sie kehrt jedoch immer wieder zu dem Skelett und insbesondere zu dem Schädel zurück, um sich auszuruhen. Bei Lebenden verläßt sie den Kopf nur nachts oder in außerordentlichen Situationen, wie plötzlichem Erschrecken, schwerer Krankheit oder bei besonderen Zuständen wie in der Trance und Ekstase. Die Seelengestalt darf aber nicht lange ausbleibe. Wenn sie nicht bald zurückkehrt, wird der Mensch krank, er ist in vielen Gefahren ausgesetzt, und bei längerer Abweseneiht der Seelengestalt muß er sogar sterben."(13)

Die Eigenschaften der Seele weisen unverkennbar Parallelen zu den oben geschilderten Nahtod-Erfahrungen auf, besonders was ihr Dasein außerhalb des Körpers betrifft. Hinweise auf Jenseits-Erlebnisse finden sich auch bei Naturvölkern. So berichten die westafrikanischen Ewe von merkwürdigen Äußerungen sterbender Personen. Scheinbar nehmen diese die Anwesenheit bereits hingeschiedener Menschen wahr:

"Viele, die im Sterben liegen, nennen noch Namen von Leuten, die längst verstorben sind. Das wird ihnen dadurch unmöglich gemacht, daß man ihnen ein Kopftuch in den Mund steckt;..."(14)

Ein konkretes Erlebnis wird aus dem südamerikanischen Volk der Mapuche berichtet. Dort glaubt man an ein Leben nach dem Tod, bezieht seinen Werdegang nach dem Ableben mit all seinen zu durchlaufenden Phasen aber nicht auf Götter oder Dämonen. Bei den Mapuche stehen vielmehr die Vorfahren im Mittelpunkt. In einem Bericht aus jüngerer Zeit wird ein Mann zitiert, der tagelang todkrank war:

"Ich bin lebendig und bin zum Vulkan gegangen. Ich habe all die toten Leute gesehen, die darin zurückgehalten wurden. Ich war bei meinem Sohn und meinen Großeltern. Sie sind alle beisammen und sehr glücklich. Sie warten auf mich, aber es ist noch nicht die Zeit dazu."(15)

Bei naturverbundenen Religionen wird allgemein angenommen, daß die Seele eines Toten ein trostloses Schattenreich einzieht, eine Unterwelt, die nicht als Leben im gewohnten Sinne gilt. Erst in weiterentwickelten Kulturen setzt sich langsam die Hoffnung auf ein Leben im Jenseits durch. Bei den Azteken etwa sollten Kriegsgefallene und Frauen, die nach der Geburt verstorben waren, nach dem Ableben ins "Haus der Sonne" einziehen. Es heißt bei ihnen:

"Steh auf, mach dich bereit, geh nach dem guten Orte, dem Haus der Sonne - deiner Mutter und deines Vaters - , wo man in Freude und Seligkeit und Fülle des Genusses lebt. Auf, begleite die Sonne; ihre älteren Schwestern, die himmlischen Fürstinnen, sie die immer und ewig in Lust und Freude leben, die unmittelbar mit und neben der Sonne wandeln, sie belustigen und mit Rasselklängen begleiten, nehmen dich an die Hand!...Schon eilst du dahin, um dort selig zu sein. An einem guten, einem schönen Orte lebst du, bei unserem Herrn, dem Sonnengotte. Du siehst ihn schon mit eigenen Augen, sprichst zu ihm mit eigenem Munde..."(16)

Das Auftreten von Jenseitserfahrungen hat bei den naturverbundenen Religionen nur geringe Einflüsse hinterlassen. Vermutlich haben die Erlebenisse die aufkommenden Vorstellung einer feinstofflichen Seele unterstützt und die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod mitgetragen.

 
 

Reisen ins Jenseits

2. Mythische Religionen: Der Übergang von einer naturverbundenen Kultur zur Hochkultur vollzieht sich ganz allmählich. Mit den veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen ändert sich auch das religiöse Verhalten. Mythische Religionen legen ihre Überlieferungen in heiligen Schriften nieder, die von Helden und Göttern künden, von der Erschaffung der Welt - und von Reisen ins Jenseits.
In Mesopotamien war es Gilgamesch, der legendäre Herrscher von Uruk, der sich in die Unterwelt begeben hat, um nach Unsterblichkeit zu suchen. In der Erzählung heißt es:

"Gilgamesch, wohin schweifst du rehelos?
Das Leben, das du suchst, nie wirst du es finden!
Da die Götter den Menschen schufen, verliehen sie ihm den Tod.
Das Leben aber behielten sie für sich."(17)

Gilgamesch war auf der Suche nach der Unsterblichkeit und kehrte doch mit leeren Händen aus der Unterwelt zurück. Seine Reise ins Reich des Todes weist jedoch einige interessante Details auf:

"Nach einer langen Zeit gelangt er hinter den Meeren am Ende derWelt zum Fluß Chubur, der letzten Grenze vor dem Totenreich. Gilgamesch verließ die Welt und kroch durch einen endlosen dunklen Tunnel. Es war ein langer, unbequemer Weg... aber zum Schluß sah er Licht am Ende der dunklen Röhre. Er kam zum Ausgang des Tunnels und sah einen prächtigen Garten. Die Bäume trugen Perlen und Juwelen und über allem strömte ein wundervolles Licht seine Strahlen aus. Gilgamesch wollte in der anderen Welt bleiben. Aber der Sonnengott schickte ihn durch den Tunnel zurück in sein Leben."(18)

Die Reise des Gilgamesch erinnert sark an die Schilderungen zeitgenössischer Experiencer. Von einer Erfahrung an der Schwelle des Todes schreibt der Philosoph Plato, indem er den Bericht des verwundeten Soldaten Er nennt. Luigi Moraldi faßt die ausführliche Erzählung Platos zusammen:

"Nachdem er den Köerper verlassen hatte, gelangte er an einen jenseitigen Ort, der von vier gewaltigen Höhlen durchzogen war... (Dann) erblickte er am Ausgang aus der Unterwelt `unreine und besudelten Seelen´; an dem Weg aber, der vom Himmel herabführte, reine und geläuterte Seelen. Sie alle lagerten sich auf einer Wiese und berichteten einander ihre Erlebnisse an dem jeweiligen Ort, von dem sie kammen... (jene,) die vom Himmel herabgestiegen waren sprachen von der unermeßlichen Freude und Glückseligkeit, die ihnen dort zuteil wurde. (...) Die Seelen verweilen nicht länger als sieben Tage auf der Wiese. Am achten Tag brechen sie auf, und nach weiteren vier Tagen erblicken sie ein Lichtbündel von außerordentlicher Helligkeit, vergleichbar dem Regenbogen: die Lichtsäule, die den ganzen Kosmos umspannt und als `Spindel der Notwendigkeit´ alle Seelen zur Wiederverkörperung zieht."(19)

Schon das Gilgamesch Epos weist auf eine Jenseitserfahrung hin, deutlicher aber ist der Fall des Soldaten Er: Bei ihm sprechen die körperlichen Umstände für ein tatsächliches Nahtod-Erlebenis.
Hinweise auf Transzendenz-Erfahrungen gibt es auch in den Religionen des Ostens. Am eindeutigsten sind die Berichte aus dem Tibetischen Buddhismus. Währender der Sterbende auf Gelgenheiten wartet, die er zur Erlösung nutzen kann, wird er am Totenbett von Geistlichen begleitet. In einer bestimmten Phase des Todes macht der betreffende Mensch ein bemerkenswertes Erlbenis, das der Tibetforscher Klaus Sagaster so beschreibt:

"...es erscheinen ihm Gestalten, Klänge, Lichter und Strahlen, die ihn erschrecken, bedrohen und ängstigen. Sein Bewußtsein hat sich inzwischen mit einem Geistkörper verbunden, einem Körper, der nicht aus Fleisch und Blut besteht, aber mit allen Sinnesfähigkeiten ausgestattet ist, so mit dem Gesichtssinn, den der Verstorbene besitzt, selbst wenn er während seines Lebens blind war. Der Geistkörper besitzt auch Wunderkräfte und kann z. B. gehen, wohin er will. (...) der Geistkörper ist zugleich unverwundbar. Der Tote sieht nun wie man seinen irdischen Körper entkleidet, die für ihn bestimmte Nahrung wegnimmt und seine Schlafstätte reinigt, und er vernimmt das Weinen und Wehklagen seiner Verwandten und Freunde. Doch er kann sich nicht mehr mit ihnen verständigen. Zwar sieht er sie, doch sie können ihn nicht sehen, und deshalb geht er voller Trauer weg."(20)

Mythische Religionen berichten in zweifacher Hinsicht von der Begegnung mit jenseitigen Welten. Einmal, wenn es um Erlebnisse einzelner, Menschen geht, die sich ohne eigenes Zutun in einer anderen Welt wiederfinden. Zum anderen gibt es in vielen Kulturkreisen den Versuch, mit Meditation oder durch berauschende Mittel einen Zugang ins Jenseits zu erlangen. In Griechenland dienen die Eleusinischen Mysterien als vorweggenommene Seelenreise, in Persien gibt es Priester, die mit Hilfe von Narkotika in fremde Regionen vorzustoßen versuchen. In den Religionen des Ostens schließlich gilt es bis heute als erstrebenswert, sich durch körperliche Übung in andere Bewußtseinszustände zu versetzen.

Die Berichte über Jenseitserfahrungen unterscheiden sich von Kultur zu Kultur, und sie sind dabei von religiösen Vorstellungn geprägt. Gleichwohl kann man erkennen, daß die geschilderten mystischen Erlebnisse von ihrer Art her den zeitgenössischen Nahtod-Erfahrungen gleichstehen. Ihr Einfluß ist bei mythischen Religionen schon deutlich sprübar. In den Religionen des Ostens ereigenen sie sich auf dem Weg zur Erleuchtung und ihre Inhalte gelten als Trugbilder, in anderen Glaubenssystemen findet ihr Erscheinungsbild wohlwollende Aufnahme.
 
 


Gottessuche und Berufung



3. Monotheistische Religionen: Beim Judentum, dem Christentum und dem Islam handelt es sich um eine gestiftete Religion. Auch in ihrem Umfeld wird von außergewöhnlichen Erfahrungen berichtet: Apokryphe Schriften erzählen, wie Henoch und Jesaja ins Jenseits gereist sind. Von Mohammed heißt es, er sei eines Nachts nach Jerusalem gereist, und habe von dort aus eine Leiter zu den sieben Himmeln erklommen. Was die kanonischen Quellen oft nur andeuten, malen apokryphe Schriften mit schillernden Farben aus. Im Mittelalter ist es schließlich Papst Gregor selbst, der Berichte über Jenseitsreisen sammelt. Es handelt sich dabei um die Erlebnisse ganz gewöhnlicher Menschen, die krank oder schwer verletzt waren. Was sie erzählen, gleicht in vielerlei Hinsicht den zeitgenössischen Nahtod-Erfahrungen.
Die weitaus größte Bedeutung der Transzendenz-Erfahrungen liegt bei den monotheistischen Religionen jedoch nicht in ihrem Einfluß auf die Vorstellung vom Leben nach dem Tode. Es sind die Berufungserlebnisse der Religionsstifer Mose, Jesus, und Mohammed, die sich unter denkwürdigen Umständen ereignen. Auch die Wandlung des Apostel Paulus ist an ein sonderbares Ereignis geknüpft.

Am Anfang steht Mose. Der Begründer der israelitischen Religion findet seine Berufung zum religiösen und politischen Führer seines Volkes, während er am Berg Horeb seine Schafe weidet. Dort kommt es nach Auskunft des Alten Testaments zu einer außergewöhnlichen Begegnung:

"Mose aber weidete die Herde Jetros, seines Schwiegervaters, des Priesters von Midian. Und er trieb die Herde über die Wüste hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb. Da erschien ihm der Engel des HERRN (21) in einer Feuerflamme mitten aus einem Dornbusch. Und er sah (hin), und siehe der Dornbusch brannte im Feuer, und der Dornbusch wurde nicht verzehrt. Und Mose sagte (sich): Ich will doch hinzutreten und dieses große Gesicht (22) sehen, warum der Dornbusch nicht verbrennt. Als aber der Herr sah, daß er herzutrat, um zu sehen, da rief ihm Gott mitten aus dem Dornbusch zu und sprach: Mose! Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Und er sprach: Tritt nicht näher heran, denn die Stätte, auf der du stehst, ist heiligen Boden! Dann sprach er: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Da verhüllte Mose sein Gesicht, denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen."(23)

Was im Alten Testament als äußere Erscheinung beschrieben wird, mag in Wirklichkeit eine innere Erfahrung Mose gewesen sein, die erst später in einem Dornbusch, "dingfest" gemacht wurde. Die lichte Erscheinung Gottes deutet dabei sehr deutlich auf ein Transzendenz-Erlebnis hin.

Nicht so einfach ist es bei Jesus. Seine erste Begegnung mit den religiösen Bewegungen seiner Zeit wird im Neuen Testament durch das Taufereignis beschrieben. Die ursprüngliche Erfahrung seiner Berufung schildern die synoptischen Evangelisten jedoch erst an späterer Stelle. Bei Matthäus heißt es dazu:

"Und nach sechs Tagen nimmt Jesus den Petrus und Jakobus und Johannes, seinen Bruder, mit und führt sie abseits auf einen hohen Berg. Und er wurde vor ihnen umgestaltet. Und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, seine KLeider aber wurden weiß wie das Licht; und siehe, Mose und Elia erschienen ihnen und unterredeten sich mit ihm."(24)

Die Begebenheit wird als Verklärung Jesu bezeichnet. Mit ihr soll eine Brücke in das Alte Testament geschlagen werden; das Neue Testament nennt sogar Zeugen für das Ereignis. Tatsächlich aber dürfte auch Jesu Berufungserfahrung ein inneres Erlebenis gewesen sein, eine Erfahrung von der er später erzählt haben muß. Bei Jesus handelt es sich freilich nicht wie bei Mose um einen religiösen Führer. Die Evangelienschreiber sehen ihn als den Messias der jüdischen Tradition und als Sohn Gottes. Zu seiner Legitimation erscheinen Gestalten des Alten Testaments, Zeugen werden zur Beglaubigung erwähnt.
Die Berufungserfahrung Jesu ist damit nach außen gekehrt, seine Erfahrung ist verobjektiviert worden. So erklärt sich auch der Versuch der Evangelisten, Jesus selbst als "weiß wie das Licht" zu beschreiben, während es tatsächlich wohl Jesus war, der einer lichten Erscheinung begegnet ist.

Einer der eifrigsten Verkünder des christlichen Glaubens war Paulus. Jesus selbst hatte dieser nie persönlich gekannt oder gesehen. Paulus berief sich stattdessen auf ein Erlebnis, das den einstigen Christenverfolger auf wundersame Weise verwandelte. In der Apostelgeschichte heißt es:

"Als er aber hinzog, geschah es daß er Damaskus nahte. Und plötzlich umstrahlt ihn ein Licht aus dem Himmel, und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die zu ihm sprach: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Er aber sprach: Wer bist du, Herr? Er aber (sagte): Ich bin Jesus , den du verfolgst. Doch steh auf und geh in die Stadt, und es wird dir gesagt werden, was du tun sollst. Die Männer aber, die mit ihm des Weges zogen, standen sprachlos, da sie wohl die Stimme hörten, aber niemand sahen."(25)

Auch hier dienen Außenstehende zur Beglaubigung des Ereignisses. Als Paulus später erneut von der Begebenheit erzählt, vertauscht er offenbar die Wahrnehmungen, die nur er gemacht hatte mit den Beobachtungen, die auch die umstehenden Personen machen konnten:

"Die aber bei mir waren, sahen zwar das Licht, aber die Stimme dessen, der mit mir redete, hörten sie nicht."

Wie schon bei Mose und Jesus darf man auch bei Paulus vermuten, daß es sich nicht um eine äußere Erscheinung gehandelt hat, wie anhand von Zeugen belegt werden sollte. Der spätere Völkerapostel scheint vielmehr eine tiefgreifende innere Veränderung erfahren zu haben.

Mohammed machte sich bereits in jungen Jahren Gedankenüber die religiöse und gesellschaftliche Situation seiner Zeit. Zur Meditation zog er sich in eine Höhle des Berges Hira zurück, wo er schließlich außergewöhnliche Erlebenisse hatte. In der Überlieferung des Al-Buchari heißt es:

"Die erste Offenbarung, die der Prothet erhielt, begann mit guten Traumgesichten im Schlaf; jeder Traum, den er sah, pflegte ihm so deutlich wie der Anbruch des Morgens zu kommen. Dann empfand er Liebe zur Einsamkeit und pflegte sich in die Höhle des Berges Hira zurückzuziehen, sich in ihr eine bestimmmte Anzahl von Nächten religiösen Übungen zu widmen, bevor er zu seiner Familie zurückkehrte...bis die Wahrheit zu ihm kam, während er in der Höhle des Hira war. Da kam der Engel zu ihm und sagte: Rezitiere! Er aber antwortete: Ich kann nicht rezitieren!"(26)

Doch der Engel läßt nicht nach, und am Ende wird Mohammed gewaltsam zum Rezietieren genötigt. Von Furcht gepackt läßt er sich zu Hause einwickeln, bis sich sein Zustand gebessert hat. Später aber setzen sich die Offenbarungen aber fort:

"Während ich einherging, hörte ich eine Stimme vom Himmel; da blickte ich auf, und da saß der Engel, der auf dem Hira zu mir gekommen war, auf einem Thron zwischen Himmel und Erde. Da fürchtete ich mich vor ihm, kehrte zurück und sagte: Wickelt mich ein!"(27)

Der Religionswissenschafler Helmuth von Glasenapp mutmaßt über die äußeren Umstände, die Mohammeds Eingebungen begleitet haben:

"Bei diesen Inspirationen unterlag er bestimmten körperlichen Zuständen. Er sank wie von einer Zentnerlast zu Boden geworfen auf die Erde nieder, ein Zittern befiel seine Glieder, Schweiß bedeckte seine Stirn, Schaum trat vor seinen Mund, und er glaubte ein Brummen oder ein anderes Geräusch zu hören. Während diese eigenartigen psychischen Erscheinungen ursprünglich ohne sein Zutung auftraten, scheint er in späterer Zeit in der Lage gewesen zu sein, sie willkürlich, wenn auch unterbewußt herbeiführen zu können."(28)

Nicht zuletzt die Beschreibung Gottes in der 24. Sure läßt erahnen, welche Erfahrungen Mohammed letztlich gehabt haben könnten. Im 35. Vers heißt es:

"Allah ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist gleich einer Nische, in der sich eine Lampe befindet; die Lampe ist in einem Glase, und das Glas gleicht einem flimmernden Stern. Es wird angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum, weder vom Osten noch vom Westen, dessen Öl fast leuchtete, auch wenn es kein Feuer berührte - Licht über Licht! Allah leitet zu seinem Licht, wen er will, und Allah macht Gleichnisse für die Menschen und Allah kennt alle Dinge."(29)

Die Gleichsetzung von Gott und Licht ist charakteristisch für Schilderungen von Nahtod-Erlebnissen. Wenn bei Mohammed zudem von körperlichen Umständen die Rede ist, die seine Eingebungen begeleiten, dann liegt die Vermutung nahe, daß auch bei ihm eine Transzendenz-Erfahrung zugrundeliegt.
 

 

Offenbarung im Lichte Gottes

Eine Reihe von Anzeichen deuetet darauf hin, daß Mose, Jesus, Mohammed und Paulus eine Transzendenz-Erfahrung gemacht haben, in der sie die Berufung zu ihrem Handeln gefunden haben. Eine lichtvolle Begegnung, die sich anhand der Schriftquellen vermuten läßt, würde auch das religiöse Engagement und das charismatische Auftreten der besagten Personen verständlich machen. Bei zeitgenössischen Nahtod-Erfahrungen sind die Persönlichkeitsveränderung hinlänglich als aftereffects bekannt.
Die Stifter und Verkünder der drei monotheistischen Weltreligionen werden als Menschen beschrieben, die sich schon früh mit der gesellschaftlichen und religiösen Situtation beschäftigt haben. Während Mose, Jesus und Mohammed sich an Orte begeben haben, die der Versenkung dienen, erstreckte sich der Eifer des Paulus auf die Verfolgung Andersgläubiger. Schwere moralische Bedenken dürften sein Gewissen belastet haben, und vielleicht liegt der Auslöser für die vermutetet Transzendenz-Erfahrung in einer angespannten psychischen Situation. Dagegen dürfte die Berufung von Mose, Jesus und Mohammed in seiner Stunde intensiver Beschäftigung mit dem Glauben erfolgt sein.

Mit den monotheistischen Religionen erreichen Transzendenz-Erfahrungnen schließlich einen Einfluß, der kaum mehr zu steigern ist: Als Berufungserlebnis vermitteln sie den Glauben an den einen Gott. Eine deutlichere Spur ist kaum mehr vorstellbar, doch ihre Bedeutung hängt davon ab, welchen Stellenwert die Erfahrungen haben.



(Fußnoten und Literaturhinweise fehlen derzeit noch - bitte entnehmen Sie diese der zugrundeliegenden Magisterarbeit .)